Das Aus für Ginkgo und Inländer?

Ein interessanter Versuch Deutschlands, sich an Europa vorbei zu mogeln.

Ginkgo wird in Asien seit einigen tausend Jahren als Lebensmittel verzehrt und ge­hört auch in Europa seit über 100 Jahren zu den gängigen pflanzlichen Zutaten. Dennoch quält sich die deutsche Rechtsprechung: Kann Ginkgo „Lebensmittel” sein? Auch den Gesetzgeber beschäftigt das Problem und er legt einen fragwürdigen LFGB- Änderungs­entwurf vor.

Stand der Rechtsprechung:

Das Landgericht Hamburg hat Ginkgo im Frühjahr die Lizenz zum Lebensmittel entzogen und stellt damit nicht nur die traditionell chinesische Küche in Frage, son­dern ignoriert auch die Rechtsprechung des Bun­desverwaltungsgerichts sowie den Vorrang euro­päischer Regelungen (Urt. v. 16.03.10 Az.: 312 0 300/09).

Problematisch ist die Divergenz zwischen dem deutschen und dem europäischen Zusatzstoffrecht.

Im Alleingang stellt der deutsche § 2 Abs. 3 Satz 2 LFGB „sonstige Stoffe”, die Lebensmitteln nicht aus technologischen sondern ernährungsphysio­logischen Gründen zugesetzt werden, den Zusatz­stoffen gleich. Anders als im europäischen Recht unterliegen sie damit genau wie diese einem prä­ventiven Verbot mit Zulassungsvorbehalt.

Da viele der „sonstigen Stoffe” insbesondere in Nahrungsergänzungsmitteln enthalten sind, waren sie von der deutschen Gleichstellungsreglung be­sonders betroffen.

Das BVerwG löste dieses Spannungsfeld bereits im Jahr 2007 als es klarstellte (das Urteil betraf vordergründig OPC), dass Nahrungsergänzungsmittel selbstverständlich auch Lebensmittel sind und deshalb als solche ebenso verzehrt wer­den, wie seine Inhaltsstoffe charakteristische Zutat eines Lebensmittels sein können.

Folgendes deutsche negative Tatbestandsmerk­mal, das einer Ausnahmeregelung ähnelt, war an­wendbar:

§ 2 Abs. 3 S. 2 LFGB: Den Lebensmittel-Zusatzstoffen stehen gleich Stoffe mit oder ohne Nährwert, die üblicherwei­se weder selbst als Lebensmittel verzehrt noch als charakteristische Zutat eines Lebensmittels ver­wendet werden und die einem Lebensmittel aus an­deren als technologischen Gründen beim Herstel­len oder Behandeln zugesetzt werden.

Sämtliche Stoffe konnten unter diesen Ausnahme­tatbestand subsumiert werden. Zu einer Gleichstel­lung mit verbotenen Zusatzstoffen kam es nicht.

Das BVerwG schaffte mit seiner Rechtsprechung Rechtssicherheit und leitete eine Liberalisie­rungstendenz ein, die der restriktiven Praxis deut­scher Überwachsungsbehörden ein Ende setzen sollte.

Wie so oft, zogen jedoch nicht alle Beteiligten am gleichen Strang. Nicht alle Gerichte und Institutionen akzeptierten den Richtungswechsel und im März 2010 meldete sich das LG Hamburg mit seiner höchst eigenen Ginkgo-Interpretation zu Wort.

LG Hamburg zu Ginkgo

Im zu entscheidenden Fall ging es um ein Tee-Produkt, das zu 10 Prozent aus Ginkgo-Blättern besteht.

In beachtenswerter Kürze subsumiert das Gericht den Sachverhalt unter § 2 Abs. 3 S. 2 LFGB und verneint lakonisch den Ausnahmetatbestand, der ein Produkt bisher vor dem deutschen Pauschal­verbot rettete: Ginkgo werde nicht „üblicherwei­se als Lebensmittel verzehrt”. Ginkgo sei den ver­botenen Zusatzstoffen gleichgestellt und mangels vorheriger Zulassung als Lebensmittel nicht ver­kehrsfähig.

Erstaunlich und rechtlich unvertretbar ist die ge­richtliche Begründung zur Verneinung des Ausnahmetatbestands. Sie scheint von dem Willen getrieben, Ginkgo unter allen Umständen vom deutschen Lebensmittelmarkt zu fegen.

Ginkgo werde nicht „üblicherweise als Lebensmit­tel verzehrt”, so das Gericht, und begründet dies mit der Verkehrs­anschauung. Diese wiederum macht es von der Vorfrage abhängig, ob ein Stoff nach Auffassung der Fachkreise über­haupt geeignet ist, ein Lebensmittel zu prägen. Da das Vorliegen eines Arzneimittels die Eigenschaft als Lebensmittel ausschließt, ist ein Stoff nur dann geeignet, ein Lebensmittel zu prägen, wenn es weder Funktions- noch Präsen­tationsarzneimittel ist. Auch wenn das LG nicht von Präsentationsarzneimittel spricht, so prüft es doch deren Voraussetzungen rechtlich äußerst fragwürdig, im Rahmen des § 2 Abs. 3 LFGB. Wenn dies richtig wäre, könnte Ginkgo gar kein Lebens­mittel sein, auf das das LFGB überhaupt anwendbar wäre und damit auch § 2 LFGB, den das Gericht ein­gehend prüft.

Überdies meint das Gericht, bei der Ermittlung der Verkehrsanschauung sei eine traditionelle Betrachtungsweise maßgeblich und das entgegen der aus­drücklichen Auffassung des BVerwG (2007, Az.: 3 C 21.6). Hier wird auf äußerst umständlichem Weg versucht, die Verkehrsfähigkeit von Ginkgo zu ver­neinen.

Außerdem lässt das LG Hamburg die Wirksamkeit der deutschen Gleichstellungsregelung nahezu undiskutiert. Und das, obwohl ihre Unwirksamkeit auf der Hand liegt. Und erstaunlicher Weise findet es sich mit dieser Vorgehensweise in guter Gesellschaft.

2. LFGB Änderungsentwurf/Konsequenzen für Ginkgo et.al.

Jüngst versuchte auch das Bundesministerium für Ernährung, Land­wirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV), § 2 LFGB in den Griff zu bekommen. Um die durch das BVerwG eingeleitete Liberalisierungstendenz aufzuhalten und dem Gesundheitsschutz gerecht zu werden, wählte es einen sehr radikalen Weg:

Das Mi­nisterium greift zum Mittel der Gesetzesänderung, um die Rechtsprechung zu korrigieren.

Durch Einfügung des neuen Satzes 3 im Entwurf des 2. LFGB Änderungsge­setztes sollen Nahrungsergänzungsmittel, diätetische Lebensmittel, Energy Drinks und angereicherte Lebensmittel sich nicht mehr auf die Ausnahmetatbestände des § 2 Abs. 3 Satz 2 LFGB berufen können. Eine umständliche Begründung zur Verbraucherauffassung wäre damit obsolet. Gerichte müssten sich zur Verneinung des Ausnahmetatbestandes nicht mehr quälen. Viele für diese Lebensmittel inzwischen ty­pische Stoffe wie beispielsweise Glucosamin, Chon­droitin und eben auch Ginkgo und viele andere innovative Stoffe wären künftig per Gesetz unmittelbar den verbotenen Zusatzstoffen gleichgestellt.

Und da wären wir bei einer Zweieinigkeit des LG Hamburgs und dem Bundesministerium ange­langt.

Das eigentliche Problem, die Europarechtswidrig­keit der Gleichstellung „sonstiger Stoffe” mit den Zusatzstoffen, bleibt unangesprochen.

Bereits die derzeitige Fassung des § 2 LFGB, auf die sich das LG Hamburg stützt, missachtet das für Deutschland verbindliche europäische Recht. Aber selbst der Neuentwurf ist an Europa vorbeigeschrieben. Und dass obwohl die maßgeblichen EG-Verordnungen als supranationales Recht unmittelbar gel­ten und Vorrang vor nationalen Gesetzen haben. Aber warum soll es in Deutschland hell sein, nur weil in Europa Tag ist?

Fehlende Gesetzgebungskompetenz

Dem deutschen Gesetzgeber fehlt die Gesetzgebungs­kompetenz. Der Europäische Gesetzgeber hat erst kürzlich die Verordnung zu Lebensmittelzusatzstoffen in Kraft gesetzt. Diese Verordnung differenziert weder zwischen „normalen” Lebensmitteln und angereicherten Lebensmitteln, noch zwischen Energydrinks, diäte­tischen Lebensmitten und Nahrungsergänzungs­mitteln.  Daher gibt es auch auf deutscher Ebene für eine solche Differenzierung keinen Raum.

Auch Sicherheitserwägungen erlauben keine Un­gleichbehandlung. Es macht keinen Unterschied, ob ein bestimmter Stoff in einem Lebensmittel des allgemeinen Verzehrs, oder in einem der genannten Produktgruppen enthalten ist. Jedenfalls nicht für den Gesundheitsschutz.

Eine Diskriminierung der genannten Gruppen ist nicht gerechtfertigt.

Außerdem regelt die Zusatzstoff-Verordnung 1333/2008/EG abschließend, welche Stoffe als Zusatzstoffe eingeordnet werden. Dies sind aus­schließlich Stoffe, die einem Lebensmittel aus technologischen Gründen zugesetzt werden. Nur diese sind Zusatzstoffe und benötigen vor jedem Inverkehrbringen eine Zulassung.

Stoffe, die dagegen aus ernährungsphysiologischen Zwecken zugesetzt werden, unterliegen also keinem Verbotsvorbehalt. Eine Gleichstellung sonstiger Stoffe verstößt damit gegen die euro­päische ZusatzstoffVo.

Für Stoffe, die Lebensmitteln nicht aus tech­nologischen Gründen zugesetzt werden, bestimmt die sog. Anreicherungsverordnung (EG) Nr. 1925/2006 ab­schließend, unter welchen Voraus­setzungen die Einschränkung der Verkehrsfähigkeit zum Schutze des Verbrauchers erforderlich ist. Nach Art. 8 der Verordnung sind „andere Stoffe” grundsätzlich unbeschränkt verkehrsfähig; es sei denn, sie sind ausdrücklich in Anhang III genannt. In Anhang III wurde bislang noch kein Stoff aufgenommen. Erstaunlicherweise lässt das LG Hamburg diese Verordnung unerwähnt, ob­wohl sich daraus die Zulässigkeit von Ginkgo in Le­bensmitteln unmittelbar ergibt. Auch das BMELV schenkt dieser Regelung keine Beachtung.

Dabei verdrängt die AnreicherungsVO § 2 LFGB in alter und neuer Entwurfsform. Für eine deutsche Norm, die das europäische festgelegte Regel-Aus­nahme-Verhältnis in sein Gegenteil kehrt und an die Stelle des Erlaubnistatbestandes mit Verbotsvor­behalt ein präventives Verbot setzt, fehlt dem deut­schen Gesetzgeber die Regelungskompetenz.

Auch das Argument des Verbraucherschutzes kann § 2 LFGB in neuer und alter Form nicht retten. Gefährliche Lebensmittel dürfen bereits nach Art. 14 (EG) Nr. 178/2002 (BasisVo) nicht in den Verkehr gebracht werden. Nach europäischem Recht ist die Einschränkung des freien Warenverkehrs mit Aus­nahme der oben genannten speziellen Regelungen sogar ausschließlich nach Maßgabe des Art. 14 Ba­sisVo zulässig. Demnach muss Art. 14 alleiniger Maßstab für die Begrenzung des freien Warenver­kehrs sein. Einzig das Vorliegen einer konkreten Gefahr im Einzelfall kann die Einschränkung des freien Warenverkehrs rechtfertigen. Die derzeitige und angedachte deutsche Verbotsregelung ist mit dem europäischen Recht nicht vereinbar.

Sie erstreckt sich pauschal auf alle „Stoffe” im An­wendungsbereich, unabhängig davon, ob diese Stoffe bereits als unsicher bewertet wurden oder nicht.

Verstoß gegen Rechtsprechung des EuGHs

Diese Wertung hat auch der Europäische Gerichtshof mehr­mals bestätigt: Sämtliche pauschale, nicht auf den Einzelfall abstellende Verbotsvorbehalte seien unverhältnismäßig und rechtswidrig. Insbesondere in seinem Urteil vom 28.01.2010 (Rs. C-333/08 – „Zulassungssystem für Verarbeitungshilfsstoffe” Rdn. 81) sind die Voraussetzungen für ein pauschales Verbot mit Zulassungsvorbehalt festge­halten.

Danach kann die Einschränkung des freien Waren­verkehrs nach Art 28 EG durch ein präventives Ver­bot mit Zulassungsvorbehalt nur gerechtfertigt sein, wenn das Gesetz die Möglichkeit schafft, die Zulas­sung der jeweiligen Stoffe zu erreichen. Ein solches Verfahren ist indes nicht vorgesehen.

Der EuGH betont in diesem Urteil weiterhin: „ … ein Antrag auf Aufnahme eines Stoffes in die nationale Liste der zugelassenen Stoffe kann von den inner­staatlichen Behörden nur dann abgelehnt werden, wenn dieser Stoff tatsächlich ein Risiko für die Ge­sundheit der Bevölkerung birgt (Rdn. 82, 85 L).

Inländerdiskriminierung, wirtschaftliche Folgen auf dem nationalen Markt

Dass den Unternehmern trotz des Pauschalverbots Möglich­keiten bleiben, den deutschen Markt zu gewinnen, macht die Regelung nicht weniger absurd.

Sie können zum Beispiel eine Ausnahmegenehmi­gung nach § 68 LFGB beantragen. Solchen Anträgen wird aber nur stattgegeben, wenn wissenschaftlich begründet werden kann, dass Gesundheitsgefahren ausgeschlossen sind. Es wäre mit einer Flut von An­trägen auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung zu rechnen, mit denen die Behörden sachlich und auch personell überfordert sein dürften. Die Bear­beitung der Anträge dürften spiegelbildlich zur EF­SA Situation in Sachen Health Claims, Monate, wenn nicht Jahre in Anspruch nehmen.

Diese Situation wird den durch den EuGH gesetz­ten Anforderung zu Verarbeitungshilfsstoffen nicht gerecht.  Dort heißt es: Ein Verfahren, das es ermög­licht, die Aufnahme in die Liste der zugelassenen Stoffe zu erreichen, müsse leicht zugänglich sein und innerhalb eines angemessenen Zeitraums abge­schlossen werden können.

Die Ausnahmegenehmigung nach § 68 ist zum an­deren auf drei Jahre befristet und kann jederzeit aus „wichtigem Grund” widerrufen werden. Die Pro­duktvermarktung stünde für nationale Hersteller dauerhaft auf der Kippe.

Aber eben nur für nationale Unternehmen. Impor­teure könnten sich auf § 54 LFGB stützen und über eine Allgemeinverfügung auf den deutschen Markt gelangen. Inländische Hersteller werden damit ge­genüber Importeuren diskriminiert, ohne dass di­es durch den Verbraucherschutz gerechtfertigt wä­re. Denn für den Verbraucher ist nichts gewonnen. Die Produkte stehen weiterhin im Supermarktre­gal, allerdings von ausländischen Herstellern. Der schlaue inländische Unternehmer wird deshalb sei­ne Sachen packen und die Produktion ins Ausland verlegen. Dann bewirkt die Regelung für den Ver­braucher keinen Schutz, sondern nur eine spürbare Reduktion von Arbeitsplätzen in Deutschland.

Zusammenfassen lässt sich das Gesetzesvorhaben deshalb wie folgt: Bewusster Arbeitsplatzexport ohne Gewinn für den Verbraucher.

Hoffnung: BGH Glucosamin Urteil:

Es bleibt zu hoffen, dass der Entwurf ein solcher bleibt weil Bundesrat und Bundestag seinen Aufstieg zum Ge­setz ablehnen, oder das Bundesministerium ihn vor­her zurückzieht Außerdem wünschenswert ist, dass der BGH in seiner noch ausstehenden Urteilsbe­gründung in Sachen Glucosamin deutlich Stellung bezieht. Es wäre hilfreich, nicht nur klarzustellen, dass ein Wettbewerb lauter ist wenn er mit Art 14 der BasisVa in Einklang steht, sondern auch, dass EG-Recht Vorrang genießt und § 2 LFGB verdrängt Würde der Gerichtshof dies feststellen, könnte § 2 LFGB in der geplanten Fassung keine rechtsverbind­ liche Wirkung entfal­ten. Die Unternehmen könnten sich getrost an die europäischen Vor­schriften halten — und ein neues Dach auf die deutschen Fabrikhallen bauen.

Lilien Sträter ist seit 2008 Rechtsanwältin der Kanzlei Dr. Schmidt-Felzmann & Kozianka in Hamburg. Ihre Schwerpunkte sind Lebensmittel- und Wettbe­werbsrecht.

Nachtrag: Neues BGH-Urteil zum deutschen Zusatzstoffrecht

Der Bundesgerichtshof hat in einem aktuell veröffentlichten Urteil das deutsche Zusatzstoffrecht als unvereinbar mit dem vorrangigen europäischen Zusatzstoffrecht beurteilt.

In dem Urteil hat der Bundesgerichtshof ausdrücklich die Verwendung von Glucosaminsulfat und Chondroitinsulfat als in Nahrungsergänzungsmitteln zulässig beurteilt. Es liegt nun erstmals ein Urteil des Bundesgerichtshofs vor, das ausdrücklich das deutsche Zusatzstoffrecht als unvereinbar mit dem vorrangigen europäischen Recht qualifiziert. Damit dürfte eine Vielzahl von bisher als nicht verkehrsfähig beurteilten Produkten nunmehr verkehrsfähig sein.

Schließlich zeigt sich, so der NEM-Verbands-Justitiar Dr. Thomas Büttner, der aktuelle Gesetzesentwurf des Bundesministeriums für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit zur Änderung des Zusatzstoffrechts vor diesem Hintergrund ebenfalls von vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn wenn der Bundesgerichtshof bereits die jetzige Zusatzstoffregelung des § 2 Abs. 3 LFGB als europarechtswidrig beurteilt, muss dies erst recht für den neuen Gesetzesentwurf gelten.

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