Das Unabhängigkeitsproblem der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA)

Eine der wichtigsten und dennoch am wenigsten bekannten Einrichtungen der EU, die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA, European Food Safety Authority), hat sich gemäß ihrem Motto „verpflichtet, sicherzustellen, dass die Lebensmittel in Europa sicher sind“. Jeder, der in Europa Lebensmittel isst, ist von ihren Entscheidungen betroffen. Aufgrund von Meinungsverschiedenheiten über ihre engen Verbindungen zur Industrie setzte die Behörde eine neue Richtlinie um, welche die Unabhängigkeit ihrer wissenschaftlichen Ausschüsse sicherstellen soll. Dennoch bleiben schwerwiegende Interessenkonflikte bestehen. Mehr als die Hälfte der 209 Wissenschaftler, die in den Ausschüssen der Behörde sitzen, haben direkte oder indirekte Verbindungen zu Industriebranchen, die sie kontrollieren sollen. Es muss eine viel klarere und striktere Unabhängigkeitsrichtlinie erstellt und rigoros umgesetzt werden, um den Ruf und die Integrität der Behörde wiederherzustellen.

Seit Jahren gibt es Interessenkonflikte bei der EFSA

Aufgrund von Interessenkonflikten all derjenigen, die in ihren wissenschaftlichen Ausschüssen sitzen, stand die EFSA in den letzten Jahren unter dauerhafter Kritik von Seiten des Europäischen Parlaments, Nichtregierungsorganisationen und der Medien. Diese Sachverständigen spielen eine wesentliche Rolle bei Entscheidungen, die für die Gesundheit und Sicherheit in der Lebensmittel-Versorgungskette eine wichtige Position einnehmen. Bisher wurde bei einigen festgestellt, dass sie kommerzielle Verbindungen zu jenen Industriebranchen haben, deren Gewinne von diesen Produkten abhängen; damit untergraben sie die Glaubwürdigkeit der wissenschaftlichen Ergebnisse über Herausgaben wie z. B. Nahrungsmittelzusätze und genetisch veränderte Organismen (GMO, genetically manipulated organism). Nachdem anfänglich geleugnet wurde, dass es ein Problem gibt, hat die EFSA – mit ihren eigenen Worten – „eine neue, umfangreiche und durchdachte“ Richtlinie zum Thema Unabhängigkeit erstellt. Die Neubesetzung von acht ihrer zehn wissenschaftlichen Ausschüsse im Laufe des Frühjahrs 2012 war für die Behörde die Chance, um mit der Umsetzung ihrer neuen Richtlinie zu beginnen und die Beteiligten auf Interessenkonflikte zu untersuchen – und Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen.

Was ist die Corporate Europe Observatory (CEO)?

Corporate Europe Observatory (CEO) ist eine Forschungs- und Kampagnengruppe, die daran arbeitet, den priviligierten Zugang und den Einfluss von Unternehmen und deren Lobbygruppen in Bezug auf die Gesetzgebung der EU offenzulegen und anzuzweifeln, siehe https://corporateeurope.org/about-ceo

Untersuchungen durch die CEO

Nachdem die Corporate Europe Observatory (CEO) eine erhebliche Menge an Untersuchungen über den Einfluss der Industrie auf die Behörde während der vergangenen paar Jahre veröffentlicht hat, hielt man es für wichtig, diese neue Richtlinie zu bewerten und dabei die Erfahrungen, die durch frühere Untersuchungen gewonnen wurden, mit einer systematischeren Methode zur Datenanalyse zu kombinieren. Die Arbeit der EFSA wurde repliziert und es wurde nur jene Information verwendet, welche die Wissenschaftler selbst gegenüber der EFSA abgegeben haben – eine konservative Annäherung – somit wurden sowohl die Interessen aller Mitglieder der wissenschaftlichen Ausschüsse überprüft, als auch die der Mitglieder des Wissenschaftlichen Komitees. Als Ergebnis ihrer neuen Unabhängigkeitsrichtlinie hat die EFSA 85 Sachverständigen verboten, an ihren Ausschüssen teilzunehmen; somit gab es Raum für Optimismus, dass einige der Hauptprobleme gelöst worden waren.

Unglücklicherweise wird dieser Optimismus durch unsere Analyse nicht bestätigt.

Die Ergebnisse unserer Untersuchung sind entmutigend. Während wir immer noch erwartet haben, Interessenkonflikte festzustellen, waren wir überrascht darüber, so viele vorzufinden: 122 von 209 Sachverständigen (58,37 %) haben mindestens einen Interessenkonflikt mit der Industrie. Sachverständige mit Interessenkonflikten beherrschen alle Ausschüsse bis auf einen. Alle außer zwei Ausschussvorsitzenden und 14 von 21 Vize-Ausschussvorsitzenden haben Interessenkonflikte. Den „Negativrekord“ hält der EFSA Ausschuss für Diätetische Produkte, Ernährung und Allergien (Dietetic Products, Nutrition and Allergies, NDA): 17 von 20 Mitglieder haben insgesamt 113 Interessenkonflikte untereinander. In allen Ausschüssen haben 10 Sachverständige jeweils mehr als 10 Interessenkonflikte. Ein Mitglied des Ausschusses für Zusatzstoffe, Erzeugnisse und Stoffe in der Tierernährung (FEEDAP) hat allein 24 Interessenkonflikte. Unter den 849 untersuchten Interessen zählte die CEO insgesamt 460 Interessenkonflikte. Darüber hinaus gibt es keinen sichtbaren Unterschied was den Anteil der Interessenkonflikte in den acht erneuerten Ausschüssen betrifft, im Vergleich zu den zwei Ausschüssen, die noch erneuert werden müssen; dies wirft weitere Fragen über die Wirksamkeit der neuen Richtlinien auf.

Warum derart schreckliche Ergebnisse? Selbstgefälligkeit bei der EFSA? Übermäßige Strenge unsererseits?

Noch einmal: Unsere Methodik für diese Untersuchung war sehr konservativer Art:

Wir suchten nicht nach nicht kommunizierten Interessen seitens der Sachverständigen und wir fügten keine unberücksichtigten Interessen hinzu, die wir im Laufe der Untersuchung festgestellt haben. Glücklicherweise scheint der Mangel an politischem Willen bei der EFSA weniger ein Thema zu sein als in der Vergangenheit. Die Behörde scheint nun ernsthaft darüber besorgt zu sein und reserviert beträchtliche Ressourcen für dieses Problem. Und tatsächlich, sobald die EFSA über das Vorhaben der CEO informiert wurde, die neue Richtlinie der EFSA genau zu prüfen, wurden wir im Juni 2013 eingeladen, nach Parma, Italien, zu kommen, an den Hauptsitz der Behörde. Dank dieser beispiellosen Geste hatten wir die Gelegenheit, während des intensiven eintägigen Meetings mit mehreren hochrangigen Offiziellen von der Behörde zu sprechen und die Handhabung von Interessenkonflikten durch die Behörde ausgiebig zu diskutieren. Engagement und Entgegenkommen waren deutlich zu erkennen; jedoch war diese Aufgabe für uns auch dahingehend aufschlussreich, dass wir in Erfahrung gebracht haben, was es für die Behörde noch zu tun gibt:

Die EFSA Richtlinie über Unabhängigkeit hat viele Schwachstellen. 

Eine erste Schwachstelle betrifft die Natur der Regeln selbst, da sie nicht ausreichend strikt sind.

Eine andere wichtige Schwachstelle ist, dass man sich bei den Sachverständigen darauf verlassen muss, dass sie ihre eigenen Interessen kundtun. Aber es gibt auch einen kulturellen Aspekt – in seiner Art unterschiedlich zu dem Problem der Richtlinienumsetzung – den wir ebenfalls untersuchen werden.

Die erste Schwachstelle

Die EFSA Regeln hinsichtlich Unabhängigkeit sind dahingehend unzureichend, dass sie zu begrenzt sind. Das Hauptkriterium, das die Behörde einsetzt, um das vom Sachverständigen erklärte Interesse zu bewerten, besteht darin, zu berücksichtigen, ob es in das Themenmandat des für ihn zuständigen Ausschusses fällt. Mit anderen Worten kann jeder Sachverständige, der Verbindungen zur Industrie hat, immer noch akzeptiert werden, solange die Interessen nicht mit dem Themengebiet des Ausschusses im Zusammenhang stehen. Dies ist unserer Ansicht nach das größte Schlupfloch in Bezug auf die Regeln und wahrscheinlich der Hauptfaktor für die Erklärung unserer Ergebnisse. Wir berücksichtigten, dass das betreffende Kriterium nicht das Mandat des Ausschusses war, sondern der Aufgabenbereich der EFSA selbst. Darüber hinaus macht es diese thematische Spezialisierung erforderlich, dass die Interessenerklärungen individuell zu bewerten sind – mit einem erheblichen Zeit- und Energieaufwand – und zwar von allen Bereichsleitern der Behörde.

In Folge dessen werden einige problematische Interessen nicht als solche betrachtet.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Ein paar laufende Kollaborationen mit dem Industrie-Think-tank International Life Sciences Institute (ILSI) werden immer noch toleriert, obwohl diese spezielle Organisation bei früheren Kontroversen mit der EFSA eine zentrale Rolle gespielt hat. Darüber hinaus gibt es keine Friedensfrist: Neuerliche Aktivitäten mit der Industrie angegliederten Einrichtungen werden von der Behörde insofern nicht als Problem angesehen, als sie begrenzt sind, was bedeutet, dass die Wissenschaftler von diesen Einrichtungen direkt zu einer Behörde gehen und dort in einem Ausschuss sitzen können. Als Ergebnis hiervon sind mehr als 30 Sachverständige mit einer ILSI Vorgeschichte – selbst in jüngster Vergangenheit – immer noch Mitglieder in den wissenschaftlichen Ausschüssen der EFSA. 

Die zweite Schwachstelle

Während die EFSA als eine Institution ihre Unabhängigkeit dadurch schützen sollte, indem sie proaktiv Verantwortung für die Überprüfung von Interessenkonflikten übernimmt, verlässt sie sich stattdessen auf die eigene Selbstbewertung der Sachverständigen. Die von den Wissenschaftlern in ihren Interessenerklärungen oder CVs selbst niedergeschriebene Information ist die einzige von der EFSA genutzte Quelle. Ihre Richtigkeit wird für selbstverständlich erachtet und es wird nicht einmal eine grundlegende Überprüfung der öffentlich verfügbaren Informationen durchgeführt, zum Beispiel im Internet – fast ein Anreiz für Missbrauch. Das gesamte System wird fehlerhaft bleiben, solange man sich lediglich auf die Selbstbewertung der Sachverständigen verlässt.

Viele Fälle von Interessenkonflikten bleiben durch das derzeitige System der EFSA unentdeckt, weil die Regeln zweifellos unzureichend sind. Was noch schlimmer ist: Es gibt Probleme mit der Umsetzung der ohnehin bereits nachsichtigen bestehenden Regeln der EFSA – einige Interessenkonflikte hätten gemäß der eigenen Regeln der EFSA aufgedeckt werden sollen, aber dies ist nicht geschehen. Hätte die EFSA ihre neue Richtlinie entsprechend dem Regelwerk sorgfältig angewendet, so glauben wir, wären sieben Vorsitzende und drei Vize-Vorsitzende des wissenschaftlichen Ausschusses nicht ernannt worden.

Unzureichendes Verstehen über Interessenkonflikte

Ein unzureichendes Verstehen darüber, was Interessenkonflikte in der Praxis mit sich bringen, untergraben schließlich und entscheidend den von den EFSA Mitarbeitern durchgeführten Untersuchungsprozess. In der Vorstellung der EFSA über Interessenkonflikte dreht sich alles um ein dramatisches Bild aus Korruption und Infiltrierung durch Industrie-„Maulwürfe“ mit üblen Absichten. Auch wenn dies nicht ausgeschlossen werden kann, ist die Realität normalerweise viel subtiler. Der Einfluss der Industrie wird durch langfristige und strukturierte Bindungsprozesse ausgeübt – die innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinde selbst durch Kultur, kollektive Dynamik, anerkannte Paradigmen und Gruppendenken entstehen – wo es für die „Denk-Industrie“ ein natürlicher Vorgang wird – eher als durch irgendeine Art von Manipulation nur beim einzelnen Wissenschaftler. Wir erinnern die Leser in diesem Bericht daran, dass heutzutage die Wissenschaft an sich ein offenes Schlachtfeld für gemeinsame Interessen ist. Dies sollte beim Erstellen und Umsetzen von Regeln, die Interessenkonflikte regulieren, der Anlass für zusätzliche Wachsamkeit und Gewissenhaftigkeit sein.

Die EFSA scheint ob dieser Realität jedoch unbekümmert zu sein.

Auf der Grundlage unserer Forschung, unseren zahlreichen Diskussionen und unserem bisherigen Fachwissen auf diesem Gebiet gelangten wir zu einer Serie von Empfehlungen, die auch als ein eher allgemeiner Beitrag zu der Initiative der EU betrachtet werden können, sich in den Behörden auf eine gründlichere und sachkundigere Art und Weise mit Interessenkonflikten zu befassen. Auf kurze Sicht gesehen könnte die EFSA ihre Regeln nachrüsten, indem kommerzielle Interessen gänzlich verboten und das Untersuchungssystem verbessert werden. Mittelfristig gesehen könnte die EFSA die Untersuchung von Interessenerklärungen von den Bereichsleitern auf spezialisiertes Personal auslagern, zum Beispiel Richter vom Europäischen Rechnungshof. Auf lange Sicht gesehen könnte man Expertise durch Insourcing wieder eingliedern, um ihnen alle verfügbaren Mittel zukommen zu lassen, damit sie ihre Arbeit ordnungsgemäß ausführen können und von den Bereichen unabhängig sind, die sie regulieren. Eine weitere Empfehlung auf längere Sicht würde darin bestehen, die Studien über regulierte Produkte, die von unabhängigen/öffentlichen Laboratorien auf der Grundlage von sehr strengen Regeln einschließlich Blindstudien (diese könnten immer noch von der Industrie bezahlt werden) durchgeführt werden, zur Verfügung zu haben.

Es ist wichtig, dies in einem größeren Zusammenhang zu beachten.

Während unsere Empfehlungen für eine bessere Umsetzung der Regeln die Qualität und Glaubwürdigkeit der Sachverständigenausschüsse der EFSA verbessern könnten, gibt es außerdem einige größere strukturelle Aspekte, die über den Umfang dieses Berichts hinausgehen, um sie ordnungsgemäß anzugehen. Es ist wesentlich zu wissen, dass die EFSA Sachverständigen zum einen nicht bezahlt werden (nur Unkosten). Zum anderen gibt es einen strukturellen Interessenkonflikt, der in das System eingebaut ist, da die Sachverständigen nur Studien bewerten, die von den Herstellern der Produkte durchgeführt wurden, um die es geht (sie selbst führen keine Forschung durch). Wenn man dies nun mit einer hohen Arbeitslast kombiniert, kann man erkennen, dass es eine entmutigende Aufgabe ist, diese Arbeit ordnungsgemäß auszuführen. Darüber hinaus werden Teile dieser Studien aufgrund von Geschäftsgeheimnissen gewöhnlich geheim gehalten, womit ihre Integration in die normale Arbeit der wissenschaftlichen Gemeinde verhindert wird. Als Ergebnis ist die Arbeit in einem EFSA Ausschuss anscheinend weder nutzbringend noch attraktiv für eine wissenschaftliche Karriere, so dass es schwieriger wird, junge und unabhängige Sachverständige zu finden, die selbstlos für die Allgemeinheit arbeiten. Es ist nicht akzeptabel, dass solch eine wesentliche Tätigkeit für das Gesundheitswesen sich als so wenig einträglich erweist.

Disclaimer

Dieser Bericht zielt darauf ab, die neue Unabhängigkeitsrichtlinie der EFSA zu überprüfen und im Besonderen ihr Umgang mit Interessenkonflikten unter ihren wissenschaftlichen Ausschussmitgliedern. Es ist daher wichtig zu betonen, was hier begutachtet wird, nämlich: Der Entscheidungsprozess der EFSA, ob ein bestimmter Sachverständiger für Aufgaben im öffentlichen Interesse in ihren Ausschüssen akzeptiert oder abgelehnt wird. Wenn ein Interessenkonflikt mit der Industrie besteht, bedeutet dies nicht, dass ein Sachverständiger für seine/ihre Ethik oder intellektuelle Ehrlichkeit kritisiert wird, aber er/sie kann nicht als unabhängig von den Einfluss der Industrie betrachtet werden. Daher sind wir der Auffassung, dass der Sachverständige nicht in der Lage ist, an der Arbeit einer Behörde teilzunehmen, dessen Arbeitslast vorrangig darin besteht, die Sicherheit von Industrieprodukten zu bewerten, die auf dem EU Markt vermarktet werden sollen.