Die Pharma-Industrie, die Ärzteschaft und Tierversuche (2)

Dr. Coleman prangert die Praxis der Schulmedizin an, sich ausschließlich auf die Pillen der Pharma-Industrie zu verlassen und die daraus folgende große Abhängigkeit der meisten Ärzte von der Pharma-Industrie.

Von Dr. med. Vernon Coleman

Mit schonungsloser Offenheit prangert Dr. Coleman die Praxis der Schulmedizin an, sich ausschließlich auf die Pillen der Pharma-Industrie zu verlassen, wenn es um die Behandlung ihrer Patienten geht. Wie groß die Abhängigkeit der meisten Ärzte von der Pharma-Industrie heute schon geworden ist, das machen sich die wenigsten klar. Dr. Coleman sagt es ihnen. Doch nicht nur er hat Zweifel, dass es bereits zu spät ist, einen Arztberuf wieder zu beleben, wie es ihm einmal gab: Einen, der das Wohlergehen oder die Wiederherstellung der Gesundheit seines Patienten über alles stellt. Einen, der bemüht ist, Zusammenhänge zu erkennen, Wirkprinzipien zu erfassen, der wissenschaftlich arbeitet. Diesen Arzt-Typ wird es aus der Ecke der Schulmedizin nicht mehr geben. Die »Marburger Erklärung« war der letzte Beweis dafür. Hier ist Dr. Colemans Bericht zur Lage der Schulmedizin:

Pharmakritik Teil 2

Die bitterste Ironie bei diesen ganzen pseudowissenschaftlichen Umtrieben ist die Tatsache, dass ein ernstes Engagement der Pharmahersteller für wirklich gründliche klinische Studien mehr als angebracht wäre, da wir über die Wirkung oder Sicherheit von Tausenden von verfügbaren Medikamenten immer noch viel zu wenig wissen.

Antibiotika, zum Beispiel, sind bereits seit vierzig Jahren auf dem Markt und die Pharmaunternehmen müssen schon ungezählte Milliarden Dollar von Gewinnen verbucht haben, aber in Wirklichkeit weiß niemand so genau, wie lange Antibiotika bei der Behandlung von spezifischen Zuständen eingenommen werden sollten. Sollte eine Antibiotikabehandlung im jeweiligen Fall fünf, sieben, zehn oder vierzehn Tage dauern? Die bizarre Wahrheit ist, dass Ihre Einschätzung wahrscheinlich genauso zutreffend ist wie die Ihres Arztes, und dieser wahrscheinlich auch nicht anders als der Hersteller über den Daumen peilt.

Abgesehen von den mangelhaften Produktprüfungen gibt es auch andere Aspekte, an denen offenkundig wird, dass die pharmazeutische Industrie sich mehr für ihre Gewinnoptimierung als für die Volksgesundheit interessiert.

Einige dieser Aspekte möchte ich im nachfolgenden ansprechen. Zunächst handelt es sich bei der großen Mehrzahl der »neuen« Arzneimittel, die die Industrie auf den Markt bringt, keineswegs um wirklich neue Entwicklungen, sondern lediglich um Variationen zu bekannten Themen.

30 000 Medikamente auf dem Markt

Nach Ansicht der Weltgesundheitsorganisation beläuft sich die Zahl wirklich unerlässlicher Medikamente auf etwa zweihundert. Zu jeder gegebenen Zeit befinden sich jedoch bis zu dreißigtausend Medikamente auf dem Markt (die genaue Zahl schwankt täglich von Land zu Land).

Bei der Mehrzahl der 29 800 nicht unerlässlichen Medikamente handelt es sich um sogenannte Duplikate, und sie sind nicht anders zu verstehen als der Versuch von profitgierigen Arzneimittelherstellern, sich auch einen Anteil der lukrativsten Märkte zu sichern. Dies hält die Firmen natürlich nicht davon ab, wahre Wunderdinge von diesen Produkten zu behaupten, die selbstverständlich ohne Verzögerung auf den Markt gelangen müssen, wenn wertvolle Menschenleben gerettet werden sollen.

Wenn sich ein Medikament erfolgreich etabliert hat, beeilen sich andere Hersteller ihre eigenen Variationen zum Thema zu produzieren. In den Produktkategorien mit dem größten Absatzpotential tobt ein mörderischer Wettbewerb, so dass Ärzte jederzeit die Wahl haben zwischen Dutzenden von verschiedenen Antibiotika, Schmerzmitteln, blutdrucksenkenden Präparaten, Tranquilizern Schlaftabletten, oralen Empfängnisverhütungsmitteln, Vitaminpräparaten und steroidfreien entzündungshemmenden Mitteln für die Behandlung von Arthritis. Bei diesen zur Auswahl stehenden Produkten handelt es sich jedoch nicht um unterschiedliche Substanzen. Unter den verschiedenen Marken- und Firmennamen verbergen sich häufig dieselben Inhaltsstoffe.

Den Unternehmen winken viele Vorteile durch die Herstellung dieser »Trittbrettfahrer«-Produkte, aber der größte Vorteil besteht darin, dass zum Zeitpunkt ihres Markteintrittes mit Sicherheit eine Reihe von unangenehmen Nebenwirkungen des ersten, ursprünglichen Medikamentes bekannt geworden sind. Da neue Medikamente niemals vor ihrer Markteinführung einer wirklich gründlichen Prüfung unterzogen werden, können neue Medikamente immer als besonders nebenwirkungsfrei angepriesen werden. Die Probleme und Nachteile treten ja erst dann zutage, nachdem Tausende von Patienten das Medikament über einen gewissen Zeitraum eingenommen haben.

Die »Trittbrettfahrer« haben natürlich einen enormen Vorteil. Bei der Einführung ihres Produktes können sie zum einen auf der Erfolgswelle des ursprünglichen Präparates mitschwimmen, können jedoch gleichzeitig Ärzten (und Patienten) verkünden, ihr Medikament sei frei von den inzwischen bekanntgewordenen Nebenwirkungen. (Neue Medikamente haben immer einen großen Vorteil über bestehende Produkte: da sie nur relativ wenigen Patienten verabreicht worden sind, fällt die Liste ihrer Nebenwirkungen relativ kurz aus.)

Wie der Staat ausgetrickst wird

Ein wenig Glück vorausgesetzt, ist den Trittbrettfahrern vielleicht sogar eine geringfügige Verbesserung gegenüber dem Originalprodukt gelungen. Dann ist es nicht schwierig, Ärzte zur »Abwanderung« von einem bewährten Originalprodukt zu bewegen, indem man ihnen eine neue und verbesserte Version anbietet. Um die Entwicklung von wirklich innovativen Medikamenten zur Behandlung von Krankheiten, für die noch keine erfolgreiche medikamentöse Therapie besteht, zu fördern, hat die amerikanische Regierung eine Gesetzesregelung eingeführt, die eine sieben Jahre lange Monopolstellung garantiert, sowie besondere steuerliche Vergünstigungen für Medikamente, die für potentielle Märkte mit weniger als 200 000 Personen konzipiert worden sind.

Arzneimittelhersteller, die Medikamente für relativ seltene Krankheiten wie AIDS herstellen, fallen unter diese Bestimmung. Den Unternehmen ist es jedoch inzwischen gelungen, die steuerlichen Vergünstigungen entgegen ihrer ursprünglichen Intention auszuschöpfen. Man wendet eine Art von Salamitaktik an, um den erweiterten Absatz und eine niedrige Besteuerung bei Arzneimitteln zu erzielen, die ohnehin marktfähig gewesen wären. Man definiert einfach bei ein und demselben Mittel verschiedene Gruppen von Symptomen für Patientengruppen unter 200 000 Personen. Schon kann das betreffende Unternehmen alle gesetzlich garantierten Vorteile für Arzneimittel für »kleine Märkte« nutzen, ohne das volle Gewinnpotential einschränken zu müssen.

Das Geschäft mit den Entwicklungsländern

Die Tatsache, dass die internationale Pharmaindustrie weitestgehend in den entwickelten Ländern subventioniert ist, bedeutet keinesfalls, dass sie sich Gewinnchancen bei den Entwicklungsländern entgehen lässt. Ganz im Gegenteil, dazu bedient sie sich Vermarktungsstrategien, die es mit jeder Tabakwerbung aufnehmen können.

Obwohl die Arzneimittelfirmen so gut wie kein Geld für die Erforschung der Krankheiten ausgeben, die unter den Bevölkerungen der Entwicklungsländer verbreitet sind, verkaufen sie etwa 20 Prozent ihrer Kombinationspräparate an die Regierungen dieser Länder. Während die Arzneimittelhersteller unumwunden zugeben, dass die Krankheiten, die unter den Bevölkerungen Afrikas und Asiens grassieren, nicht rentabel genug sind, um Investitionen in die Forschung zu rechtfertigen, verkaufen sie ihre teuren Markennamenversionen von Tranquilizern, Schlafmitteln, Schmerzmitteln und anderen pharmazeutischen Müll der entwickelten Länder mit Freuden an diese Länder.

Hinzu kommt, dass die pharmazeutische Industrie, ähnlich wie die Tabakindustrie, bei ihren Verkaufskampagnen in den Entwicklungsländern mit Werbemitteln und Marketingverfahren arbeiten können, die selbst die laxesten Regierungen der westlichen Welt niemals gestatten würden.

In die Dritte Welt werden nicht nur Produkte verkauft, die aufgrund ihrer Bedenklichkeit in den entwickelten Ländern mit strengen Verboten belegt worden sind, vielmehr werden Medikamente auch in einer Art und Weise eingesetzt, die in den entwickelten Ländern niemals gestattet wäre. So werden Ärzte in Entwicklungsländern zum Beispiel ermutigt, Medikamente zur Wachstumsförderung von unterernährten Kindern zu verordnen, die in Wirklichkeit einfach nur besser ernährt werden sollten. Gegen die Rücksichtslosigkeit der Pharmaunternehmen nimmt sich die Rüstungsindustrie wie eine Vereinigung von Philanthropen aus. Es sind sogar Fälle bekannt geworden, in denen Arzneimittelhersteller die Medikamentenpreise während Epidemien in kleinen Entwicklungsländern angehoben haben. Der Pharmaindustrie gehen die erzielten Gewinne über alles andere.

Ärzte wurden von der Pharma-Industrie entmündigt

Natürlich kommt es gelegentlich vor, dass Vertreter der Ärzteschaft den Entschluss fassen, etwas gegen diese Missstände zu tun und man versucht, sich ein wenig aus der tödlichen Umklammerung zu lösen. Die Canadian Medical Association hat gerade neue Richtlinien für den Ärztestand herausgegeben, in denen es unter anderem heißt: »Interessenkonflikte zwischen dem persönlichen Nutzen des Arztes und dem Wohlergehen des Patienten sollten stets im Sinne des Letzteren entschieden werden. Ein Arzt darf keinen persönlichen Nutzen von der Industrie oder ihren Vertretern annehmen, wenn dies seine praktische Tätigkeit zum Nachteil ihrer Patienten beeinflussen könnte«.

Der Gedanke, es könne wenigstens einige wenige Ärzte geben, die sich an diese Richtlinien halten, hat etwas Tröstliches an sich. Ich für meinen Teil bin aber doch recht skeptisch. Bereits im Jahr 1975 habe ich das ungesunde Abhängigkeitsverhältnis der medizinischen Berufsstände von der Pharmaindustrie schonungslos aufgedeckt. Dieses Buch wurde seinerzeit vom medizinischen Establishment aufs schärfste verurteilt und ich bin sicher, dass diese Ausführungen ebenfalls einen Sturm der Entrüstung entfachen werden.

Der pharmazeutischen Industrie ist es gelungen, die Ärzteschaft zu entmündigen, sie hat ihr die Macht, ihre Vitalität und ihren Selbstrespekt entrissen. Die Pharmaindustrie hat mit ihren gewaltigen finanziellen Mitteln die Kontrolle über das medizinische Establishment schlicht und einfach gekauft.

Als die Arzneimittelfirmen die Entwicklung und Herstellung der Medikamente am Ende des neunzehnten Jahrhunderts übernommen haben, übernahmen sie damit das offensichtlichste wissenschaftliche Element der medizinischen Praxis. Damals, als die praktizierenden Apotheker die Tablettenherstellung den Chemiefirmen überließen, ging die einzige wirkliche Verbindung zur Wissenschaft verloren. Trotz der Versuche von überragenden Persönlichkeiten wie Ramazzini und Paracelsus, eine wissenschaftliche Haltung zu Fragen der Diagnose zu etablieren, sind die Fortschritte in der praktischen Medizin über Jahrhunderte fast ausschließlich aus dem Bereich der Therapie gekommen.

Als die Ärzteschaft begann, sich auf Arzneimittelhersteller für die Entwicklung von neuen Medikamenten zu verlassen, haben sie ein Tätigkeitsfeld geräumt, dem wir die größten Entwicklungen in der Medizin seit der Renaissance verdanken.

Bei der Herstellung ihrer Arzneimittel haben die alten Apotheker sich nicht nur an bestehende Rezepturen gehalten; sie haben auch experimentiert und neue Zusammensetzungen getestet, wobei sie Nutzloses oder Gefährliches verwarfen und Wirkungsvolles und gut Verträgliches beibehalten haben. Diese Apotheker verstanden gewiss wenig von klinischen Doppelblindversuchen, und wären wohl mit der Abhaltung von Vorträgen vor einem großen Fachpublikum auf gesponserten Konferenzen überfordert gewesen aber sie waren durch einen unstillbaren Wissensdurst inspiriert. Sogar jene Praktiker, deren Liebe zur Heilkunst von ihrem Gewinnstreben übertroffen wurde, waren sich der Tatsache bewusst, dass die Entwicklung neuer und wirkungsvollerer Arzneimittel ihnen mehr Patienten, größere Praxen sowie mehr Ansehen und Reichtum bescheren würde. Ein Arzt, der eine erfolgreiche Praxis aufbauen wollte, musste sich stark auf die eigenen wissenschaftlichen Grundkenntnisse verlassen können.

Abgenabelt von der Wissenschaft

Der rasche Aufbau der geschäftlichen Beziehungen zu einer sich dynamisch entfaltenden pharmazeutischen Industrie bedeutete mehr als nur die Trennung der medizinischen Praktiker von den grundlegenden Prinzipien der Wissenschaft; durch diese Entwicklung sind viele Vertreter des Berufsstands nachlässig und faul geworden, mit einer Neigung zur Nabelschau.

Unsere heutigen Ärzte haben alle Zugang zu der gleichen Palette von wissenschaftlich hergestellten Medikamenten, doch der gesamte Arzneimittelherstellungsprozess ist so komplex geworden, dass kein einzelner Arzt alle daran beteiligten wissenschaftlichen Prinzipien verstehen kann. Die Ärzteschaft ist auf eine wirksame Art und Weise von jener Wissenschaft getrennt worden, von der sie sich stets genährt hat, und als Folge davon ist die konsequente Verfolgung der Eigeninteressen in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt.

Die Medizin hat sich zu einem »Geschäft« entwickelt, anstatt zu einem Beruf im Sinne des »Berufen-seins«, und wie alle Geschäftsmänner sind Ärzte bei ihren Entscheidungen mehr gewinnorientiert als durch andere Motive bewegt. Die kontinuierliche Verbindung mit einer skrupellosen Industrie, die bereitwillig alle anderen Belange auf dem Altar des Gewinnstrebens zu opfern bereit ist, hat sich stark auf den Berufsstand der Ärzte ausgewirkt.

Tablettenabhängig sind die Ärzte, nicht die Patienten

Die Ärzteschaft hat sich so daran gewöhnt, den Anweisungen der Industrie Folge zu leisten, dass sie in einem Pawlow’schen Reflex gleich Medikamente für alle Übel der Welt verordnet. Ihrer Visionen beraubt, leiden sie an einer Horizontverengung, einer Berufsblindheit (Amaurosis professionalis), die ihnen den Ausblick auf die Heilungsmöglichkeiten nimmt, die außerhalb der traditionellen pharmakologischen Möglichkeiten liegen.

Häufig ist von der Tablettenabhängigkeit der Patienten die Rede. Die wirklichen Abhängigen sind die Ärzte, die nicht von ihren Verschreibungspraktiken loskommen. Viele Personen, die einen Arzt konsultieren, suchen Rat oder Unterstützung. Was sie am wenigsten erwarten, ist die Verordnung von Tabletten. Aber die meisten Ärzte beenden ihre Konsultationen mit einer Verschreibung. Wie eine kürzlich durchgeführte Studie gezeigt hat, wurde ein Viertel aller Frauen in einem bestimmten Stadtgebiet wegen psychiatrischen Indikationen behandelt. Eine andere Studie kam zu dem frappierenden Ergebnis, dass mehr als die Hälfte aller älteren Patienten, die in die diversen Abteilungen eines Krankenhauses aufgenommen wurden, von ihren Hausärzten Tranquilizer verordnet bekommen hatten.

Welcher Arzt ist so offen und ehrlich, einem Patienten zu erzählen, dass ihm eigentlich nichts fehle? Sind unsere Ärzte überzeugt, dass jedem, der in die Sprechstunde kommt, etwas fehlt bzw. fehlen muss? Hat der Arzt versagt, der nichts Behandlungsbedürftiges feststellen kann, etwas, das mit einem modernen, stark wirksamen Medikament behandelt werden muss? Aber Medikamente stellen die einzige Verbindung, die einzige Brücke zur Wissenschaft dar. Medikamente sind alles, worüber die meisten modernen Ärzte verfügen – ohne Medikamente sind sie nichts. Also muss für jeden Patienten, der in die Sprechstunde kommt, etwas diagnostiziert werden, das einer Medikamentenverordnung bedarf.

Verantwortung wird abgeschoben

Wenn die Wahl des Medikamentes gefallen ist, geht die Verantwortung an den allmächtigen Pharmahersteller über. Das in den Arzneimittelhersteller gelegte Vertrauen erklärt sich eben daraus, dass diese Beziehung für die meisten Ärzte die einzige wirkliche Verbindung zur Wissenschaft darstellt. Wenn es überhaupt nicht gelingt, etwas Behandlungsbedürftiges zu diagnostizieren, sind viele Ärzte zur allzu gerne bereit, irgendetwas mit vagen Indikationen, wie ein Aufbaumittel oder Tranquilizer, zu verordnen.

Dank der gründlichen Überzeugungskraft der pharmazeutischen Industrie verfügen unsere Ärzte über einen phänomenalen Scharfblick für Medikamentenindikationen, denn Medikamente gibt es schließlich für alles und jedes. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Mehrzahl der Ärzte genauso gut als Angestellte der Arzneimittelfirmen agieren könnte, anstatt sich ihre Daseinsberechtigung als unabhängige Wissenschaftler in die Tasche zu lügen. Schließlich verordnen sie das, was ihnen die Pharmaindustrie vorschreibt, genauso wie den Firmenvertretern vorgeschrieben wird, welche Produkte sie forcieren sollen.

Das schicksalsträchtige Patent des Herrn Brockeden hat die Verwandlung des Apothekers in einen pillenzählenden, etikettierenden Automaten eingeleitet – in einen besser bezahlten Pharmabeamten eben. Und schließlich hat Brockedens Patent auch die Verwandlung des Hausarztes und Klinikers in pillenverordnende Automaten bewirkt.

In diesem schmerzlichen und peinlichen Bewusstsein, mit dieser Enttäuschung konfrontiert, hinkt der Schulmediziner unserer Tage durch ein Berufsleben, das ja schließlich auch einiges an Kompensationsmöglichkeiten bietet, wie man an den selbstherrlichen Gebärden der Halbgötter in Weiß ablesen kann, die durch die Abteilungen der Krankenhäuser stolzieren und ihre Patienten mit kaum verhohlener Verachtung strafen.

Der Arzt ist Angestellter der Pharma-Industrie

Der moderne Arzt sieht sich nach wie vor als eine Art mystischer Heiler – d.h. in verklärten Träumen zumindest. Im kalten Licht der Realität betrachtet, ist der moderne Arzt jedoch kaum mehr als ein Angestellter der Arzneimittelhersteller, der im besten Fall die allerneuesten Wundermittel mit Feuereifer verordnet; in der Hektik der täglichen Praxis bleibt keine Zeit, das ihm vorgelegte Werbe- und Informationsmaterial zu hinterfragen oder gar mutig zu kritisieren und so nimmt man die am Wegesrand liegenden Werbegeschenke so gut es geht mit, bis die tausendfach verordneten Wundermittel von gestern durch die allerallerneuesten Wundermittel von heute abgelöst werden, was der Illusion zur Speerspitze wissenschaftlich-medizinischer Innovationen zu gehören, wieder neue Nahrung verschafft.

Die heutige Ärzteschaft scheint kaum mehr zu selbständigem Denken fähig zu sein. Sie geben eine leichte Beute für diverse wirtschaftliche Interessengruppen ab, während der Berufsstand sich durch seine Engstirnigkeit und Voreingenommenheit auszeichnet.

Das Schlimmste daran ist die Tatsache, dass der Ärztestand schon ein so fester Bestandteil eines Establishments geworden ist, dass alle neuen Ideen, die nicht von der Pharmaindustrie vorgebracht werden, ignoriert oder unterdrückt werden – ein Berufsstand, der weder neue Ideen hervorbringt noch echte Innovation zu akzeptieren vermag. Die Macht, die die Pharmaindustrie über die Ärzteschaft ausübt, hat ein Klima der Inkompetenz, Faulheit und Gier gefördert und die wenigen Verbindungen des Berufsstandes zur Wissenschaft gekappt und verkümmern lassen. Dabei ist jedoch die Kritikfähigkeit, die Phantasie und die Kreativität der Ärzte auf der Strecke geblieben.

Die einseitige Abhängigkeit von medikamentösen Therapien hat zu einer Blindheit für andere Behandlungsformen geführt. Meiner Ansicht nach ist es die unausgesprochene und unheilige Allianz mit ihren Zahlmeistern, die es den meisten Ärzten verbietet, irgendetwas mit TENS-Geräten zur Schmerzbekämpfung zu tun zu haben, oder erfolgreiche Entspannungstechniken zur Stressbewältigung statt Medikamente anzuwenden. Die Mehrzahl der Kliniker bleibt lieber bei ihren gewohnten Verordnungen – Schmerzmittel für den Leib, Tranquilizer für die Seele. Es ist die gleiche unheilige Allianz und fehlgeleitete Loyalität (gepaart mit handfestem Futterneid und Angst um ihre Vormachtstellung), die jene sattsam bekannte, unreflektierte Ablehnung alternativer und komplementärer Heilmethoden zur Folge hat.

Finanzen wichtiger als Patienten

Ein Ärztestand, der vom Statusdenken beherrscht und fest vor dem Karren des pharmazeutischen Gewinnstrebens eingespannt ist, wird kaum imstande sein, für das Wohle ihrer Patienten in einem umfassenderen Sinne zu sorgen. Unsere heutigen Ärzte wägen Prioritäten oder Risiken nicht mehr nach den Bedürfnissen der Patienten ab, sondern nach finanziellen Vorgaben. Nur allzu häufig müssen Patienten nicht wegen unserem Mangel an Wissen ihr Leben lassen, sondern weil die Ärzte das verfügbare Wissen nicht anwenden; Patienten müssen ihr Leben lassen, weil die Ärzteschaft und die Pharmaindustrie kein wirkliches Interesse daran haben, die Volksgesundheit zu verbessern, dafür aber alle Interessen der Welt an einer Fortdauer der gegenwärtig fortschreitenden, schleichenden Degeneration.

Die Ärzte sind sich vielleicht dieser Entwicklungen gar nicht bewusst. Und es gibt vielleicht auch Vertreter der Pharmaindustrie, die sich dieser Entwicklungen auch nicht bewusst sind. Aber das System hat beide gleichermaßen vereinnahmt und die vollständige Kontrolle über die wichtigsten Mechanismen erlangt.

Wenn nichts Durchgreifendes unternommen wird, steht einer weiteren Verschlechterung der Beziehung zwischen Ärzteschaft und Patienten wirklich nichts mehr im Wege, und es steht zu erwarten, dass die medizinischen Berufsstände eines Tages gänzlich zu einem Anhängsel der pharmazeutischen Industrie verkommen werden. Manche Leser werden freilich argumentieren, dass es bereits viel zu spät ist, um diese Entwicklungen noch abzuwenden.

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