Die Pharma-Industrie, die Ärzteschaft und Tierversuche (1)

Die orthodoxe Medizin hat ihre Forschung, ihre Therapie und ihren Verdienst fast vollständig in die Hände der Pharmaindustrie gelegt, mit schrecklichen Folgen für Mensch und Tier.

Von Dr. med. Vernon Coleman

Wie es passieren konnte, dass ein ehemals wissenschaftlich arbeitender Berufszweig, nämlich der der Ärzte, zum Verschreibungs-Automaten degenerierte, das schildert dieser Beitrag.

Pharmakritik Teil 1

Natürlich erfolgte diese Entwicklung nicht von heute auf morgen. Sie dauerte etwa 200 Jahre lang. Doch in den letzten 50 Jahren gewann diese Entwicklung ganz entscheidend an Dynamik und Skrupellosigkeit. Die orthodoxe Medizin hat ihre Forschung, ihre Therapie und ihren Verdienst fast vollständig in die Hände der Pharmaindustrie gelegt, mit schrecklichen Folgen für Mensch und Tier. Diese medizinhistorischen Zusammenhänge muss man kennen, wenn man mit Verfechtern der Tierversuche diskutiert. Dann weiß man, auf welch dünnem Eis sich die Herren Professoren bewegen, die immer noch vom “medizinischen Fortschritt” sprechen, der ohne Tierversuche nicht möglich sei. Richtiger ist es, vom medizinischen Profit zu sprechen, den sich inzwischen Pharma-Industrie und Schul-Medizin teilen, wobei Mensch und Tier nur insofern eine Rolle spielen als sie der Gewinnmaximierung dienen. Wieder einmal liefert Dr. Coleman die besten Argumente für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Befürwortern von Tierversuchen.

Wie und warum konnte es passieren, dass die Ärzteschaft die Verbindung zur Wissenschaft verloren hat?

Wie konnte der junge, dynamische und kreative Stand der Heilberufe soweit herunterkommen, dass heute kaum mehr als ein Verordnungsgewerbe übrig geblieben ist, ein Gewerbe, das den Vermarktungslaunen einer korrupten und rücksichtslosen Industrie gehorcht und sich damit zufrieden gibt, stets mit der neuesten Verordnungsmode zu gehen, ohne sich um unabhängige Untersuchungen zu bemühen oder Kritik zu üben? Will man verstehen, wie und warum es zu dieser Entwicklung gekommen ist, wird es erforderlich sein, den Blick über hundert Jahre zurück in die Tage der Apotheker zu richten. Denn die Entwicklung dieses Berufsstandes veranschaulicht sowohl die Art und Weise, in der die Ärzteschaft sich entwickeln würde, wie auch die maßgeblichen Einflüsse auf diesen Berufsstand im letzten Abschnitt des neunzehnten Jahrhunderts und im zwanzigsten Jahrhundert. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts fielen die praktizierenden Kliniker in mehrere Kategorien. Zunächst gab es die in den Universitäten ausgebildeten Ärzte, deren Qualifikationen ihrem erworbenen Buchwissen und akademischen Fähigkeiten entsprangen, anstatt einer praktischen Kenntnis der Medizin und ihrer Patienten. Diese Ärzte waren stets adrett, penibel und aufs modischste gekleidet, und sie bevorzugten eine Art von Küchenlatein (dog Latin) für ihre gesprochenen und geschriebenen Mitteilungen. Ihre Kenntnisse der praktischen Seite der klinischen Medizin waren außerordentlich bescheiden. In den Händen dieser Ärzte, deren Zahl sehr gering war, lag die medizinische Betreuung des Establishments. Zu jener Zeit wurden sie jedoch nicht als Spezialisten oder fachärztliche Berater angesehen. In vielen Ländern waren die Ärzte die einzigen Personen, denen es offiziell gestattet war, für medizinischen Rat Geld zu verlangen.

Der »Wunderarzt« oder auch »Handwerkschirurg«, wie er zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch durch die Lande zog, nach einem zeitgenössischen Stich. Arzt, Chirurg und Apotheker waren damals die drei medizinischen Berufsstände. (Illustration aus »Die Chronik der Medizin«, Harenberg-Verlag, Dortmund)

Will man verstehen, wie und warum es zu dieser Entwicklung gekommen ist, wird es erforderlich sein, den Blick über hundert Jahre zurück in die Tage der Apotheker zu richten. Denn die Entwicklung dieses Berufsstandes veranschaulicht sowohl die Art und Weise, in der die Ärzteschaft sich entwickeln würde, wie auch die maßgeblichen Einflüsse auf diesen Berufsstand im letzten Abschnitt des neunzehnten Jahrhunderts und im zwanzigsten Jahrhundert.

Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts fielen die praktizierenden Kliniker in mehrere Kategorien.

Zunächst gab es die in den Universitäten ausgebildeten Ärzte, deren Qualifikationen ihrem erworbenen Buchwissen und akademischen Fähigkeiten entsprangen, anstatt einer praktischen Kenntnis der Medizin und ihrer Patienten. Diese Ärzte waren stets adrett, penibel und aufs modischste gekleidet, und sie bevorzugten eine Art von Küchenlatein (dog Latin) für ihre gesprochenen und geschriebenen Mitteilungen. Ihre Kenntnisse der praktischen Seite der klinischen Medizin waren außerordentlich bescheiden. In den Händen dieser Ärzte, deren Zahl sehr gering war, lag die medizinische Betreuung des Establishments. Zu jener Zeit wurden sie jedoch nicht als Spezialisten oder fachärztliche Berater angesehen. In vielen Ländern waren die Ärzte die einzigen Personen, denen es offiziell gestattet war, für medizinischen Rat Geld zu verlangen.

Ärzte und Chirurgen

Obwohl sie nicht als höher oder besser qualifiziert als die Apotheker galten, die ähnliche Dienste für den Großteil des übrigen Berufsstandes leisteten, genossen die akademisch ausgebildeten Ärzte einen höheren sozialen Status als alle anderen Praktiker und waren die einzigen Mitglieder eines medizinischen Berufstands, die die Häuser der Großbürger und der Oberschicht durch den Haupteingang betreten durften. Alle anderen Mitglieder medizinischer Berufsstände mussten solche Häuser durch den Eingang für Dienstboten und Lieferanten betreten.

Den zweiten medizinischen Berufsstand bildeten die Chirurgen. Ihrem chirurgischen Handwerk waren so gut wie keine Grenzen gesetzt, jedoch durften sie ihren Patienten weder Pillen noch Arzneitränke verabreichen. Die Chirurgen waren nach einem langen und erbitterten Kampf mit dem Berufsstand der Hebammen zu ihrer Macht gelangt. Zu jener Zeit verstand man unter Hebammen jene nicht ausgebildeten Frauen, häufig genug auch Analphabeten, die meist ihre Kenntnisse von ihren Müttern und Großmüttern erworben hatten und über Jahrhunderte die praktische medizinische Versorgung für Millionen von Land- und Dorfbewohnern sicherstellten. (Die Hebammen beschränkten sich also keineswegs auf die Pflege und Betreuung von schwangeren oder gebärenden Frauen. Im siebzehnten Jahrhundert gab es Hebammen, die aufgrund ihrer hervorragenden praktischen Fähigkeiten zu Ruhm und Ansehen gelangt waren. Reiche Patienten, die die beste verfügbare medizinische Betreuung ungeachtet der Qualifikationen wollten, zahlten diesen Hebammen höhere Honorare als den ausgebildeten Ärzten oder Chirurgen. Es gab Hebammen, die das Tausendfache eines Arzthonorars für eine Konsultation erhalten haben).

Apotheker als ärztlicher Berufsstand

Es war der dritte und wichtigste medizinische Berufsstand, der Stand der Apotheker, der den Großteil der Bürger versorgte, die sich professionelle medizinische Behandlung leisten konnten. Obwohl ihre Ausbildung sich von jeher auf die Abgabe von Arzneimitteln konzentrierte und ihnen auch in einigen Ländern auf dem Gesetzesweg die Erteilung von medizinischen Ratschlägen verboten wurde, waren die Apotheker in der Tat die ersten praktischen Ärzte.

Die Gesetzgebung, die es den Apothekern nicht gestattet, für ihren medizinischen Rat ein Honorar zu verlangen, beeinflusst die medizinischen Berufsstände noch heute. Da es so war, dass die Apotheker ihr Geld nur durch die Abgabe von Medikamenten verdienen konnten und ihre Beratung eine unentgeltliche Leistung darstellen musste, war es nur unvermeidliche Logik, dass jede Konsultation mit der Abgabe eines Medikamentes abgeschlossen wurde. Es fällt nicht schwer nachzuvollziehen, wie sich diese Praktiken bis auf den heutigen Tag erhalten haben.

Obwohl die intelligenteren, ehrgeizigeren und beleseneren Apotheker zweifelsohne einige der verfügbaren medizinischen Arbeiten ihrer Tage studierten und mit Sicherheit wesentlich mehr über den Menschen, Krankheit und Arzneimittel wussten als die Mehrzahl der Ärzte, war es strikt untersagt, für medizinischen Rat oder Anweisungen für den Einsatz von Medikamenten Geld zu verlangen. Offensichtlich waren die akademisch qualifizierten Praktiker der Ansicht, dass Arzneimittelkunde und Medikamente einen relativ unbedeutenden Teil des medizinischen Berufsstandes darstellen, denn sie haben den Apothekern bereitwillig gestattet, die gesamte Kontrolle über die Herstellung und Abgabe von Medikamenten zu erlangen.

Indem sie die Herstellung aller pflanzlichen Medikamente kontrollierten, gelang es den Apothekern, eine Machtbasis zu schaffen. Die akademisch ausgebildeten Ärzte erkannten bald diesen Fehler, der ihnen unterlaufen war, und machten gehörige Anstrengungen, um die Macht wieder an sich zu reißen. In England spitzte sich dieser Konflikt im Jahr 1703 zu, als einige Ärzte einem Apotheker mit dem Namen Rose vorwarfen, einem Patienten Medikamente ohne vorherige Überweisung an einen Arzt verordnet zu haben. Obwohl die anklagenden Ärzte den Fall gewonnen haben, hat das House of Lords das Urteil nach einem Einspruch aufgehoben und den Apothekern das Recht eingeräumt, Patienten, die keinen Arzt konsultiert hatten, zu empfangen, zu untersuchen und ihnen Medikamente zu verschreiben. Die Lords beschieden jedoch, dass die Apotheker kein Geld für ihre Untersuchungen verlangen durften, sondern lediglich für die abgegebenen Medikamente.

Die verschiedenen Zweige des medizinischen Berufsstandes haben sich in etwas unterschiedlicher Weise in verschiedenen Ländern entwickelt. In Italien, Frankreich und Deutschland waren die Apotheker die Vorläufer der Pharmazeuten. In England waren die Apotheker die Vorläufer der heutigen Hausärzte und bildeten die treibende Kraft für die Entwicklung der modernen Ärzteschaft.

Eine traditionelle Verknüpfung zwischen Apothekern und Arzneimitteln war nun geschaffen worden und die meisten Patienten erwarteten die Verschreibung eines Medikaments als Abschluss einer Konsultation – eine Erwartung, deren Erfüllung die Apotheker gerne nachkamen. Auf diese Art und Weise war jene Tradition der Verknüpfung Patient – Krankheit – Arzt – Medikament geboren.

In England, und auch in anderen Ländern begannen die Apotheker, die allgemeine Kontrolle über die medizinische Versorgung zu erlangen. Bis Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erteilten die Apotheker Lizenzen an Hunderte von ehrgeizigen jungen Männern.

Der Beginn der Apotheker-Macht

Der Aufstieg der Apotheken zur Macht war, was vielleicht wenig überrascht, begleitet von einem raschen Anstieg in der Zahl und Größe der Hersteller von Medikamenten, die über die Apotheken abgegeben wurden.

Es war jedoch vor allem eine Entwicklung, die der im Aufstieg begriffenen pharmazeutischen Industrie eine rasche Expansion und eine wirklich internationale Verbreitung ermöglichte – die Entwicklung der maschinell hergestellten Tablette.

Es begann damit, dass die Apotheker meist selbst hergestellte, pflanzliche Heilmittel dispensierten. Mit dem Anwachsen der Praxis überstieg der Bedarf an Medikamenten die eigene Herstellungskapazität. Ein unübersehbarer, dringender Bedarf für eine kommerzielle Herstellung von Medikamenten war entstanden.

Den Apothekern war es gelungen, die Hebammen und andere, nicht ausgebildete Heilkundige, die seit Jahrhunderten zum Wohl der Menschen gewirkt hatten, in die Illegalität abzudrängen; sie hatten sich als der wichtigste Zweig der medizinischen Berufsstände etabliert. Sie wurden von der breiten Öffentlichkeit akzeptiert und gebraucht. Jedermann, ob reich oder arm, erwartete im Fall einer Krankheit von einem Apotheker behandelt zu werden. Das Geschäft der Apotheker gedieh bestens und es fehlte zunehmend die Zeit für die eigenhändige Herstellung von Medikamenten, denn die Apotheker wurden dringlicher für Konsultationen und Krankenbesuche benötigt. Die Apotheker waren nun auf Lieferanten für die Rezeptur und Herstellung von Medikamenten angewiesen. Sie benötigten mehr und auch effizientere Arzneimittelhersteller. Mit anderen Worten, sie benötigten eine pharmazeutische Industrie.

Es stellte sich jedoch ein ganz elementares Problem. Wer als Arzneimittelhersteller im großen Stil seine Erzeugnisse weltweit vertreiben wollte, musste erst über ein Verfahren zur Herstellung von exakt dosierten Medikamenten verfügen, die sich leicht transportieren und lagern ließen. Dank der von Sanctorius (auch als Santorio Santorio bekannt) entwickelten Waagen gestaltete sich die Arzneimittelherstellung ein wenig wissenschaftlicher als einstmals, doch haben Apotheker zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts noch immer Stößel und Mörser zur Herstellung ihrer zusammengesetzten Rezepturen verwendet. Die fertigen Medikamente wurden in Form von Mixturen, Pulvern oder Pillen verkauft, und die Zeit, die ein Apotheker benötigte, um seine Regale und Vorräte zu füllen (und damit seine Verdienstmöglichkeiten aufzustocken), hing von seiner eigenen Fertigkeit und der etwaigen Zahl seiner Assistenten ab. Zu jener Zeit musste noch jede Pille von Hand angefertigt werden; die aktiven Wirkstoffe wurden zunächst mit Stößel und Mörser feingemahlen und dann wie ein Backteig ausgerollt, ehe man diese Masse in kürzere Abschnitte unterteilte und schließlich Kugeln daraus formte. Ohne Geräte zur Standardisierung der Pillenherstellung konnte schwer eine gleichmäßige Dosierung erzielt werden, denn beim Pillendrehen im Handverfahren gab es unweigerlich erhebliche Schwankungen hinsichtlich des Wirkstoffgehalts der einzelnen Pillen. Diese Herstellung war eine recht unwissenschaftliche Angelegenheit, die es dem einzelnen Hersteller schwer machte, durch größere Stückzahlen den Verdienst zu erhöhen. Wollte ein Apotheker die Produktion seiner handgefertigten Pillen verdoppeln, musste er schließlich zweimal so viele Lehrlinge beschäftigen.

Die Entdeckung der »Pillen-Maschine«

Dieses Problem wurde schließlich von einem Mann gelöst, den heute so gut wie niemand mehr kennt. Ihm war es gegeben, den wichtigsten Beitrag eines einzelnen Menschen bei der Gründung der heute so übermächtigen Pharmaindustrie zu leisten.

William Brockeden wurde im Jahr 1787 in Devon, England, geboren. Der gelernte Uhrmacher verdiente auch ein Zubrot als Autor und Künstler. Im Rahmen seiner Tätigkeit als Künstler gelang ihm eine Entdeckung von bahnbrechender Auswirkung auf die Arzneimittelherstellung, die es den Apothekern gestattete, ihre pillendrehenden Lehrlinge durch effiziente und zuverlässige Tablettenherstellungsmaschinen zu ersetzen.

William Brockeden, der sich immer wieder heftig über die Unmöglichkeit , verunreinigungsfreie Zeichenstifte zu bekommen, geärgert hatte, verfiel auf den Gedanken, reines, pulverisiertes Graphit in einer Druckform zwischen zwei Prägestempeln zu pressen. Da er sich über die möglichen anderweitigen Anwendungen seiner Erfindung im klaren war, beantragte er ein Patent für ein Verfahren zur »Formung von Pillen, Pastillen und schwarzem Blei durch Druckanwendung in einer Form«.

Im Jahr 1844, nur wenige Monate, nachdem Brockeden sein Patent erhalten hatte, berichtete das Pharmaceutical Journal in England wie folgt:

»Wir haben eine Probe von Kalium Bikarbonat erhalten, die durch ein von Mr. Brockeden erfundenes und inzwischen patentiertes Verfahren zu einer Pille zusammengepresst wurde. Wie wir erfahren haben, eignet sich das Patent für die Pressung einer Reihe von anderen Substanzen zu einer festen Masse, ohne die Zuhilfenahme von Gummi oder anderen Stoffen mit Klebeeigenschaften«.

Die Erfindung trat ihren sofortigen Siegeszug rund um den Globus an, obwohl es zunächst auch Experten gab, die die Maschine als eine vorübergehende Modeerscheinung betrachteten.

In einem Leserbrief an das Pharmaceutical Journal stellte ein verärgerter Lehrling die Frage, ob er sich drei Jahre lang einer Ausbildung unterzogen habe, um seine Zukunft mit dem Beschriften und Verpacken von Flaschen mit maschinell hergestellten Tabletten zu verbringen. Die Apotheker und ihre Patienten fanden die maschinell hergestellten Tabletten geradezu unwiderstehlich. Zum einen waren sie wesentlich handlicher und ließen sich leichter mit sich herumführen als die bisherigen Pulver und Mixturen und zum anderen sahen sie einfach modern und wissenschaftlich aus.

Bald gab es die ersten Maschinen, mit deren Hilfe Tabletten zu Tausenden hergestellt wurden, und schon wenige Jahre, nachdem Brockeden sein Patent angemeldet hatte, schossen auf der ganzen Welt kleine Firmen zur Herstellung von Tabletten wie Pilze aus dem Boden. Den Apothekern was es längst klar geworden, dass der Bezug von fertigen Tabletten von einem spezialisierten Lieferanten sich wesentlich einfacher und billiger als die eigene Herstellung gestaltete.

In ganz Europa wurden ehrgeizige junge Geschäftsleute in der Tablettenherstellung tätig. Chemiefirmen in der Schweiz, Deutschland und England, die sich bislang als Spezialisten in der Herstellung von Farbstoffen verstanden, befassten sich nun mit der Arzneimittelherstellung – mit der erklärten Absicht, diese Produkte weltweit an die Ärzteschaft zu vertreiben.

Damit hatte die Industrielle Revolution zum ersten Mal mit einer direkten Wirkung auf die Ärzteschaft durchgeschlagen und die internationale Pharmaindustrie war geboren. Diese Industrie war die unausweichliche Folge des Wachstums der medizinischen Berufsstände. Die Wirksamkeit der Tabletten mag nicht immer sehr hoch gewesen sein, doch haben die Firmen schließlich einen bestehenden Bedarf gedeckt.

Ursprünglich war diese neugeborene Industrie entstanden, um den wachsenden Arzneimittelmarkt zu beliefern. Innerhalb eines Jahrhunderts würde sich die Rolle dieser neuen Industrie grundlegend gewandelt haben, denn heute schafft sie ihre eigenen Märkte und beeinflusst und kontrolliert die Schulmedizin auf der ganzen Welt.

Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts haben die wissenschaftlichen Elemente der Medizin sich größtenteils auf den therapeutischen Bereich konzentriert. Dies war seit den Tagen von Paracelsus stets der Fall gewesen. Die Erprobung von neuen Mitteln und Experimente mit neuen Verfahren in den Fällen, in denen die bisherigen Möglichkeiten am Patienten versagt hatten, waren die stärksten wissenschaftlichen Triebfedern in der Praxis der Medizin.

Den Ärzten entgleitet die wissenschaftliche Kontrolle

Indem die Ärzteschaft die Herstellung ihrer Arzneimittel aus der Hand gab, entglitt ihnen auch die Kontrolle über die wissenschaftlichen Elemente in der Medizin, und man begab sich unter die Kontrolle einer kleinen Industrie, die, ursprünglich als dienender Zulieferer angetreten, am Ende die Kontrolle über die medizinischen Berufsstände erlangen würde.

Die große Liebesaffäre zwischen der Ärzteschaft und der Pharmaindustrie wurde aus einer Notwendigkeit heraus geboren. Und als beide Partner begriffen hatten, welche gigantischen Gewinne aus dieser Liaison zu erzielen sind, gedieh die Liebe aufs Innigste. Die Pharmaindustrie wurde in die Lage versetzt, große Mengen von Medikamenten zu außerordentlich hohen Preisen abzusetzen. Und die Ärzteschaft hatte eine nie versiegende Quelle von Medikamenten, die sie ihren Patienten verordnen konnten.

Wie kam es jedoch, dass diese Industrie sich in einer so raschen und geradezu dramatischen Art und Weise entwickeln konnte? Wie konnte ein scheinbar unabhängiger und wohlhabender Berufsstand sich so vollständig von einer Industrie vereinnahmen lassen, deren einziger Existenzgrund schlicht und einfach im Gewinnstreben liegt?

Zu dem Zeitpunkt, als die medizinischen Berufsstände die Herstellung und Entwicklung von Arzneimitteln der aufstrebenden Pharmaindustrie überließen, wäre dies die Gelegenheit gewesen, die geschäftlichen Aspekte des Berufes zu übergeben und die Kontrolle über die wissenschaftlichen Elemente der Arzneimittelherstellung in der Hand zu behalten. Leider ist nichts dergleichen geschehen. Stattdessen hat die Ärzteschaft das Feld der Wissenschaft geräumt und sich selbst zu Geschäftsmännern entwickelt. Ärzte stellten ihre unabhängige Experimentiertätigkeit weitgehend ein, und die Fähigkeit zum kreativen, originellen Denken verkam zu einer Nebensächlichkeit in der Führung einer Praxis. Der Beruf des Arztes, der einstmals das größte Ansehen genoss, geriet zu einem Gewerbe wie jedes andere. Die Ärzteschaft hat ihre Loyalität und Verantwortung gegenüber ihren Patienten niedergelegt und die Kontrolle ihres Berufsstandes einer mächtigen, rücksichtslosen internationalen Industrie überlassen. Ich bin keineswegs der Ansicht, der Berufsstand habe diese Entwicklung bewusst zugelassen oder mit Absicht herbeigeführt. Diese Entwicklung hat einen langsamen, kontinuierlichen Verlauf genommen – aber sie hat sich gründlich vollzogen. Und die pharmazeutische Industrie war verständlicherweise nicht traurig über die Entwicklung dieser neuen Beziehung.

Der Mythos vom Arzt als Wissenschaftler

Unsere heutigen Ärzte sind keine Wissenschaftler. Sie denken weder als Wissenschaftler noch handeln sie als solche. Das große Problem besteht jedoch darin, dass sie sich immer noch als Wissenschaftler verstehen und immer noch als Wissenschaftler handeln wollen. Und indem sie die Ärzteschaft mit High-technology Pharmazeutika versorgt, hält die Arzneimittelindustrie diesen Mythos am Leben.

Die Ärzte haben der pharmazeutischen Industrie ihr ganzes Vertrauen geschenkt, und die Arzneimittelindustrie, die den größtmöglichen Einfluss auf die gängigen Verschreibungspraktiken nehmen möchte (denn nur so lassen sich die Gewinne maximieren), stellt ja nicht nur die Präparate selbst her, sondern kontrolliert einen überwältigend großen Anteil der ärztlichen Fach- und Fortbildung. Über 40 % der Informationen, die für ärztliche Verordnungsentscheidungen relevant sind, stammen direkt von den Arzneimittelherstellern. Jedes Jahr schöpft die Pharmaindustrie aus gewaltigen Werbeetats und beschäftigt zudem ein Heer von Vertretern, die die Empfehlungen der Hersteller bis in die Praxen tragen. Darüber hinaus stehen noch weit größere Etats zur Verfügung, um Ärzte großzügig für ihre Beteiligung an fadenscheinigen ‘klinischen Versuchen’ zu entlohnen und üppige ‘Reisespesen’ zu übernehmen. Die Zahl der medizinischen Gesellschaften, die noch keine Unterstützung von pharmazeutischen Unternehmen erhalten haben, dürfte weltweit verschwindend klein sein.

Fachzeitschriften ausschließlich von der Pharmaindustrie finanziert

Die Finanzkraft der Arzneimittelindustrie (die sich im englischen Sprachgebrauch meist mit dem Zusatz ‘ethical’ pharmaceutical industry tituliert) steht auch hinter den meisten medizinischen Fachzeitschriften. Die überwältigende Mehrzahl der 30.000 medizinischen Fachzeitschriften erhält riesige Summen für die Anzeigen, die von der Pharmaindustrie geschaltet werden, und verfügt darüber hinaus kaum über eigene, unabhängige Einnahmequellen. Häufig produzieren diese Fachzeitschriften Sonderteile für Arzneimittelhersteller, die den Absatz bestimmter Produkte forcieren wollen. Andere Zeitschriften veröffentlichen Artikel, die in den betreffenden Firmen verfasst werden, jedoch wie unabhängige wissenschaftliche Arbeiten aussehen, in Wahrheit aber von den Firmen selbst oder in ihrem Auftrag geschrieben werden, um den Absatz der Produkte zu fördern.

Noch vor hundert Jahren haben Arzneimittelhersteller ihre eigenen wissenschaftlichen Journale herausgegeben, um über ihre Produkte zu informieren. Heute benötigen die Pharmahersteller keine eigenen Zeitschriften, um ihren Produkten den gewünschten wissenschaftlichen Anstrich zu verleihen. Im Auftrag der Firmen verfassen technische Schreiber die gewünschten wissenschaftlichen Papiere und engagieren scheinbar ‘unabhängige’ Ärzte, die ihren Namen daruntersetzen. Letztere machen sich über den Inhalt offensichtlich keine allzu schwerwiegenden Gedanken; und wer sieht nicht gerne den eigenen Namen in einer seriösen Fachzeitschrift abgedruckt, und wer lässt sich nicht gerne um den Erdball jetten, um an Veranstaltungen teilzunehmen und die eigenen wissenschaftlichen ‘Arbeiten’ vorzutragen – selbstverständlich alles erster Klasse und ohne einen Pfennig dafür zu zahlen? Viele ‘Verfasser’ erhalten astronomische Beraterhonorare für ihre ‘Arbeiten’.

Gerät ein bestimmtes Produkt in die Schusslinie, wird in manchen Fällen eine positive Stellungnahme von diesen Koryphäen in Form eines Leserbriefes an die entsprechenden Fachzeitschriften erwartet.

Der Einfluss der pharmazeutischen Industrie auf die medizinischen Fachzeitschriften unserer Tage lässt sich schwer ermessen, doch stehe ich mit meiner Meinung wohl nicht allein, dass dieser Einfluss, gelinde gesagt, zu umfassend ist.

Das allgemeine Widerstreben, das medizinische Fachzeitschriften gewöhnlich an den Tag legen, wenn es darum geht, Artikel und Leserzuschriften, die den Wert von Tierversuchen in Frage stellen, zu veröffentlichen, erscheint mir als besorgniserregendes Beispiel für die Macht der Pharmahersteller.

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