Genom-Analysen: Wahrsager im Labor
Vor einigen Jahren wurde uns berichtet, dass die Menschheit nach der Entschlüsselung des menschlichen Genoms vor einem medizinischen Durchbruch stünde. Es wurde und mehr oder weniger gesagt, dass es nur noch eine Frage der Zeit sei, bis man endlich in der Lage sei, aus den Genen abzulesen, für welche Krankheiten wir ein erhöhtes Risiko hätten. Die Frage an die Wissenschaft lautete: Wird das Entstehen einer Krankheit von Tausenden verschiedenen Genen begünstigt? Je genauer Wissenschaftler das menschliche Erbgut untersuchen, desto ernüchterter erkennen sie: Für viele Volksleiden lassen sich keine einfachen genetischen Ursachen ausmachen. Sind Genom-Analysen also ohne klinische Bedeutung?
Bahnbrechende Studie zum Risiko bei Prostatakrebs
Im Januar 2008 veröffentlichten amerikanische und schwedische Ärzte eine scheinbar bahnbrechende Studie: Männer, die fünf bestimmte genetische Varianten im Erbgut trügen, so die Botschaft, hätten ein fast zehnmal höheres Risiko, an Prostatakrebs zu erkranken.
Einen so starken Effekt „haben wir niemals zuvor gesehen“, verkündete der beteiligte Arzt Xu Jianfeng von der Wake Forest University School of Medicine in North Carolina. Zur Früherkennung will er nun einen Gentest über die Firma Proactive Genomics vermarkten, zu deren Gründern er zählt.
Nicht jeder hält das für eine gute Idee.
In Raum 207 der School of Public Health der Harvard University in Boston forscht ein Gelehrter, der die Studie gründlich analysiert hat. Er heißt Peter Kraft und hat Deutsch und Mathematik studiert. An seiner Tür hängt das Brecht-Gedicht „Der Zweifler“, und das passt gut zu der Art und Weise, wie er seinen Beruf als Epidemiologe ausübt.
Kraft bestreitet nicht die Seriosität der Arbeit, die im „New England Journal of Medicine“ erschienen ist. Aber aufgefallen ist ihm, wie geschickt die Autoren ihre Daten präsentieren, damit die von ihnen gefundenen Varianten im Erbgut als besonders gefährlich erscheinen. Dazu haben sie Männer, die keine der Varianten tragen, mit jenen verglichen, die gleich alle fünf haben. Nur wenn man die beiden Extreme nebeneinanderstellt, lässt sich ein bedrohlich hohes Risiko errechnen.
Die allermeisten der insgesamt untersuchten 4700 Männer gehören aber gar nicht in diese Extremgruppen. Rund 90 Prozent von ihnen haben nämlich eine, zwei oder drei Varianten – und die Risikounterschiede zwischen diesen Gruppen sind denkbar gering.
„Auf die übergroße Mehrheit der Männer trifft das zehnfach erhöhte Risiko also gar nicht zu“, sagt Peter Kraft. „Da frage ich mich: Ist der Gentest wirklich sinnvoll?“ Mit seiner Skepsis steht der Epidemiologe nicht allein. Auch der Genetiker David Goldstein von der Duke University in Durham, North Carolina, stutzt, wenn er von immer neuen Erfolgsmeldungen der Genjäger hört. Viele Fundstücke, die in der Öffentlichkeit marktschreierisch als Krankheitsgene verkauft würden, seien bloß statistische Auffälligkeiten. Der Lockenkopf, der den Besucher in Flip-Flops begrüßt, erzählt, wie er sich selbst voller Begeisterung auf die Suche nach Krankheitsursachen im Erbgut gemacht habe.
Es ging dabei nicht um sogenannte monogene Leiden, bei denen ein bestimmter Gendefekt eindeutig zum Ausbruch einer Erbkrankheit führt. Vielmehr war er Leiden wie Krebs oder Herzinfarkt auf der Spur, die von Genen abhängen, aber auch Umwelteinflüssen unterliegen.
Doch vor ungefähr anderthalb Jahren kam Goldstein zunehmend ins Grübeln.
Je gründlicher er und andere Genom-Forscher in Vergleichsstudien nach auffälligen Abschnitten suchten, desto weniger kam dabei heraus.
Beispiel Diabetes vom Typ 2: Das Stoffwechselleiden wird zwar vor allem durch Bewegungsmangel und Fehlernährung verursacht, hat aber auch einen erblichen Anteil – und die dafür verantwortlichen Gene wollten die Forscher finden.
„Wir haben Studien mit Zehntausenden Patienten durchgeführt“, sagt Goldstein. „Dabei wurden tatsächlich viele auffällige Genvarianten gefunden; doch sie alle können nur ein paar Prozent der vererbten Diabetes-2-Fälle erklären. Wo ist der große Rest?“ Seine Antwort: Der Rest schlummert im Erbgut und ist übersehen worden, weil die bisherigen Suchmethoden zu grobmaschig sind. Eine bestimmte Krankheit hänge mit Dutzenden oder gar Hunderten dieser noch unerkannten Stellen im Erbgut zusammen. Wenn aber so viele Gene die biologische Ursache einer Krankheit ausmachen, dann ist die Aussagekraft jedes einzelnen dieser Gene äußerst gering.
Zunehmende Zweifel an kommerzielle Erbgutanalysen
Aus diesem Grund ziehen Biologen jetzt auch die klinische Relevanz kommerzieller Erbgutanalysen in Zweifel, die mehr und mehr auf den Massenmarkt drängen. Im September 2008 hat die Firma 23andMe aus Kalifornien die Preise um 60 Prozent gesenkt. Wer 399 Dollar zahlt, darf eine Speichelprobe einschicken und kann schon wenig später sein genetisches Profil auf einer Internet-Seite einsehen: Es enthält mehr als hundert Krankheiten und Merkmale.
Doch es zeigt sich: Die Tests erfassen genetische Varianten, deren Einfluss auf die Gesundheit eben viel geringer ist als gedacht. „Für mich ist das reines Entertainment, weil es derzeit aus dem Angebot dieser Genom-Firmen nichts gibt, was ich für klinisch verwendbar hielte“, sagt Genetiker Goldstein. „Glauben Sie nur ja nicht, dass Sie mit einem solchen Test etwas tun, das wichtig für Ihre Gesundheit wäre.“
David Altshuler vom Broad Institute in Cambridge, Massachusetts, gehört ebenfalls zu den führenden Wissenschaftlern auf dem Feld der Genom-Forschung – und hat auch kein Interesse, sein Erbgut näher kennenzulernen. „Wenn es mir jemand auf einer CD gäbe, würde ich mich weigern, die Daten anzuschauen“, sagt er. „Sie sind bedeutungslos.“
Doch das neue Verständnis der Krankheitsvererbung lässt nicht nur die bisher gängigen Erbgutanalysen überflüssig erscheinen, sondern es reicht viel weiter: Wenn es stimmt, dass Dutzende, wenn nicht gar Hunderte Abschnitte im Erbgut mit einer bestimmten Krankheit zusammenhängen, dann gründet ein tragendes Konzept der modernen Biomedizin auf einer falschen Annahme: jenes der personalisierten Medizin.
„Wir sollten damit anfangen, die kompletten Genome von Patienten zu sequenzieren“
Damit würde eine Hypothese ihre Grundlage verlieren, welche die Genforschung in den vergangenen Jahren geprägt und Millionensummen verschlungen hat: Viele Volksleiden, so die Hoffnung, würden durch eine überschaubare Zahl von Krankheitsgenen begünstigt, die vergleichsweise häufig in der Bevölkerung vorkommen.
Diese postulierten Krankheitsgene waren vor rund 20 Jahren der tiefere Grund, die sündhaft teure Sequenzierung des menschlichen Erbguts voranzutreiben. Nachdem die Sequenz im Jahr 2003 vollständig vorlag, machten Forscher auf dem Genom Millionen Stellen aus, die sich von Mensch zu Mensch unterscheiden. Diese „SNPs“ (sprich Snips, für „Single Nucleotide Polymorphisms“) dienten als Wegweiser durch die Weiten des Genoms.
Kaum war das Erbgut ausgeflaggt, ging es ans eigentliche Werk. Forscher suchten mit Hilfe von Massentests nach SNPs, die gehäuft bei bestimmten Erkrankungen auftreten. Findet sich ein auffälliges SNP, so die Überlegung, dann müsste in dessen Nähe wiederum ein Gen liegen, das bei der Entstehung des Leidens eine wichtige Rolle spielt.
Tatsächlich haben Biologen Gene entdeckt, die klinisch relevant sind. „BRCA1“ oder „BRCA2“ erhöhen das relative Risiko, an Brustkrebs zu erkranken, um das Drei- bis Siebenfache. Und das „APOE4“-Gen erhöht das Alzheimer-Risiko um das 3- bis 15fache. „Wir gingen davon aus, mehr Gene mit einer ähnlichen Bedeutung zu finden“, erinnert sich der Harvard-Epidemiologe Kraft.
Doch diese Erwartung scheint sich mehr und mehr als Wunschdenken zu erweisen. „BRCA1“ oder „APOE4“ waren wohl nur Ausnahmen. Mehr als hundert Vergleichsstudien zu mehr als 70 häufigen Leiden haben die Genjäger inzwischen abgeschlossen – doch von der erhofften Ausbeute kaum eine Spur. Sie haben 200 SNPs entdeckt, die bestenfalls einen Bruchteil der Krankheiten biologisch erklären.
Das Mysterium steht nur scheinbar im Widerspruch zu den vielen Erfolgsmeldungen, die aus den Laboratorien dringen. Kaum eine Woche vergeht, in der Forscher und Medien nicht die Entdeckung eines neuen „Krankheitsgens“ feiern. Doch in den allermeisten Fällen, so auch bei den fünf angeblichen Prostatakrebs-Genen, handelt es sich in Wahrheit nur um SNPs, die vermutlich gar keine klinische Bedeutung haben.
Aufgebauschte maue Befunde zum Eintreiben von Forschungsgeldern
Gleichwohl bauschen Forscher ihre mauen Befunde systematisch auf, indem sie kleine Risiken zu einem großen Risiko zusammenrechnen, wie dem Harvard-Epidemiologen Kraft aufgefallen ist: „Wissenschaftler sind nicht gegen Druck gefeit, ihre Ergebnisse übertrieben darzustellen, um häufiger zitiert zu werden und Forschungsgelder einzutreiben.“
Anbieter von Genom-Analysen wiederum haben laut Kraft „finanzielle Anreize, die Bedeutung ihrer Tests zu übertreiben, die ungefähr so aussagekräftig sein mögen wie eine Kristallkugel zum Wahrsagen auf meinem Schreibtisch“.
Tatsächlich verfolgen auch die Mitarbeiter der Firma 23andMe, unter ihnen viele Genetiker, wie die personalisierte Medizin derzeit entzaubert wird. Aber Schlüsse zögen sie daraus bisher nicht, sagt die Firmensprecherin Rachel Cohen: „Es ändert nichts daran, dass SNPs eine wichtige Rolle für die Gesundheit spielen.“
Unter den Genom-Forschern ist unterdessen eine Debatte ausgebrochen, wie man weiterforschen soll. Während die einen noch mehr und noch größere Vergleichsstudien fordern, halten Skeptiker wie Goldstein dies für reine Zeitverschwendung:
„Wenn man 30.000 Patienten mit Diabetes Typ 2 untersucht hat, dann halte ich es für sinnlos, die Zahl auf 60.000 oder 100.000 zu erhöhen.“
Warum bei den Massenscreenings wenig herauskam, ist für ihn leicht zu erklären. Viele Erbkrankheiten, so der Forscher, gingen auf Gene zurück, die auch dazu führten, dass sich die Betroffenen nur schlecht fortpflanzen. Goldstein: „Diese Varianten sind schlecht für uns und haben deshalb in der Bevölkerung nur eine extrem kleine Verbreitung.“
Die eher seltenen Krankheitsgene kommen demnach in weniger als einem Prozent der Bevölkerung vor – und wurden deshalb mit den bisher üblichen grobmaschigen Vergleichsstudien nicht erkannt.
Nun schlägt Goldstein eine radikal andere Strategie vor:
Statt kranke und gesunde Menschen nur grob genetisch miteinander zu vergleichen, sollten die Forscher das Erbgut kranker Menschen gründlich durchforsten, Gen für Gen. „Wir sollten damit anfangen, die kompletten Genome von Patienten zu sequenzieren“, fordert Goldstein.
Bis vor kurzem noch wäre der Vorschlag vollkommen unpraktikabel gewesen. Doch immer schnellere Sequenziermethoden machen es jetzt bezahlbar, die Genome ganzer Patientengruppen zu durchmustern: Baustein für Baustein, damit diesmal nichts übersehen wird.
In seinem Labor an der Duke University probieren Goldstein und seine Mitarbeiter den neuen Ansatz schon aus. Die Proben in den hellblauen Sequenziergeräten stammen von Menschen mit der Bluterkrankheit. Sie hatten Anfang der achtziger Jahre, als es noch keine Sicherheitsmaßnahmen gab, Blutgerinnungsmittel erhalten, die mit dem HI-Virus verseucht waren. Viele Bluter wurden damals auf diese Weise mit dem HI-Virus infiziert und starben später an Aids. Einige von ihnen jedoch waren resistent gegen die Immunschwäche.
Manche der Glücklichen, das haben andere Untersuchungen ergeben, tragen einen veränderten Rezeptor auf den Zellen, so dass das HI-Virus nicht eindringen kann. Aber das erklärt nur einen kleinen Teil der Resistenzen. Viele andere Bluter ohne diese Rezeptorvariante haben ebenfalls überlebt – warum nur?
Um das Rätsel zu lösen, sequenzieren Goldstein und seine Mitarbeiter jetzt die kompletten Erbanlagen von 50 Betroffenen: Die biologische Erklärung für ihre Resistenz muss irgendwo in ihren Genen liegen. Die Pionierstudie ist nur der Auftakt. Als Nächstes will Goldstein auf diese Weise auch Krankheitsgene finden. So sollen die Genome von Menschen mit Schizophrenie vollständig entschlüsselt werden, um endlich die dafür verantwortlichen seltenen Gene ausfindig zu machen.
Der Forscher hält es indes für möglich, dass es am Ende sogar zu einem ernüchternden Paradigmenwechsel kommen könnte:
Erkrankt womöglich jeder Patient aus einem eigenen genetischen Grund? Hat jeder seine individuellen Krankheitsgene?
„Dann kämen wir in Schwierigkeiten“, sagt Goldstein, „weil die Entwicklung von Therapien praktisch kaum möglich und nicht zu bezahlen wäre.“ Wichtiger noch: Diese Erkenntnis würde das Verständnis von Krankheiten tiefgreifend verändern.
Ein Leiden wie die Schizophrenie gibt es so vielleicht gar nicht. Vielmehr könnten es Hunderte verschiedene Krankheiten sein, die sich rein zufällig in den gleichen Symptomen äußern.